
Hochbegabung im Erwachsenenalter: Ein differenzierter Blick
In den letzten Jahren rückt die Hochbegabung im Erwachsenenalter zunehmend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Während früher vor allem Kinder und Jugendliche im Vordergrund standen, wird nun immer deutlicher, dass eine weit überdurchschnittliche Intelligenz nicht einfach verschwindet, sondern das gesamte Leben prägt. Es ist erfreulich, dass sich mehr Plattformen diesem wichtigen Thema widmen, um das Bewusstsein für die komplexen Facetten der Hochbegabung zu schärfen.
Leider halten sich trotz wissenschaftlicher Erkenntnisse immer noch hartnäckige Vorurteile und stereotype Bilder über hochbegabte Menschen. Diese Klischees, oft durch populärwissenschaftliche Darstellungen verstärkt, können das Erleben der Betroffenen erheblich beeinflussen. Für Psychotherapeut:innen ist es daher unerlässlich, nicht nur ihr Fachwissen zu aktualisieren, sondern auch die eigenen Annahmen kritisch zu hinterfragen, um hochbegabte Patient:innen angemessen begleiten und unterstützen zu können. Ein differenzierter Blick auf Hochbegabung ist entscheidend, um Fehlinterpretationen zu vermeiden und individuelle Bedürfnisse zu erkennen.
Was bedeutet Hochbegabung im Erwachsenenalter?

Als intellektuell hochbegabt gilt eine Person, die in einem psychologisch evaluierten Intelligenztest einen IQ-Wert von ≥ 130 erreicht. Statistisch gesehen trifft dies auf etwa 2% der Bevölkerung zu, während nur etwa 0,01% als höchstbegabt gelten (IQ ≥ 145). Hochbegabung ist demnach ein sehr hohes kognitives Potenzial, das sich nicht nur in schulischem oder beruflichem Erfolg manifestiert, sondern das gesamte Erleben und die Interaktion mit der Welt durchdringt.
Hochbegabte Menschen verfügen über eine einzigartige kognitive Ausstattung, die sich in verschiedenen Bereichen äußert. Sie sind oft in der Lage, komplexe Zusammenhänge schnell zu erfassen und innovative Lösungen zu finden. Ihr Denken ist tiefgründig und kritisch, was sie dazu befähigt, Probleme in ihrer gesamten Komplexität zu durchdringen und nicht an der Oberfläche zu bleiben. Dies führt oft zu einem intensiveren Erleben und einer besonderen Herangehensweise an das Leben.
- Logisch-analytisches Denken
- Muster und Probleme schnell erkennen und lösen
- Kritische und tiefgreifende Auseinandersetzung mit Fragen
- Betrachtung von Problemen in ihrer Komplexität
- Hohe Auffassungsgabe und Verarbeitungsgeschwindigkeit
- Ausgeprägte Konzentrationsfähigkeit
- Sehr gutes Gedächtnis
- Hohe Kreativität
- Vielfältige Interessen
- Breites Wissensspektrum
- Drang, Ideen umzusetzen und Neues zu gestalten
- Bedürfnis nach Denkfreiheit
- Suche nach Herausforderungen
- Wunsch, hohe Ansprüche zu erfüllen
- Oft hohes Energielevel
- Intensive Wahrnehmung und Emotionalität
Es ist wichtig zu verstehen, dass Hochbegabung keine homogene Gruppe darstellt. Verallgemeinernde Aussagen oder gar „Typologien“ sind wissenschaftlich nicht belegt und führen zu einem verzerrten Bild. Hochbegabte unterscheiden sich nicht qualitativ in ihren sozial-emotionalen Kompetenzen oder Persönlichkeitsmerkmalen und zeigen auch keine erhöhte Prävalenz für psychische Störungen. Stereotype Mediendarstellungen, die Hochbegabte als „Nerds“ oder „einsam“ darstellen, sind irreführend und schädlich.
Hochbegabung als Teil des Selbstkonzepts und biografische Erfahrungen

Hochbegabung ist ein integraler Bestandteil des Selbstkonzepts und untrennbar mit den biografischen Lernerfahrungen eines Menschen verbunden. Aufgrund ihrer spezifischen „Grundausstattung“ setzen sich Hochbegabte auf eine besondere Weise mit sich selbst, anderen und der Welt auseinander. Dieses Erleben kann jedoch im Laufe des Lebens zu einzigartigen Herausforderungen führen, insbesondere wenn das Umfeld nicht angemessen darauf reagiert.
Viele hochbegabte Erwachsene berichten, dass sie ihre spezifischen Erlebnisse und Kompetenzen in verschiedenen Lebenskontexten nicht immer offen zeigen konnten. Die Angst vor Unverständnis, Überforderung oder Neid seitens des Umfelds führt oft dazu, dass sie ihre Fähigkeiten herunterspielen oder sich anpassen. Solche negativen Lernerfahrungen können zur Entwicklung von Selbstkonzeptschemata wie „Ich bin anders und muss mich anpassen“ oder „Ich bin zu viel und werde nicht verstanden“ führen. Dies wiederum kann Unterforderung oder das Unvermögen, die eigenen Interessen auszuleben, zur Folge haben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass nicht alle hochbegabten Erwachsenen von ihrer Hochbegabung wissen, insbesondere wenn in Kindheit oder Jugend keine Testung erfolgte. Für diese „spät erkannten“ Hochbegabten fehlt oft ein Erklärungsrahmen für ihr eigenes, manchmal als „anders“ empfundenes Erleben. Im Gegensatz dazu sind jüngere Generationen, die mit dem „Label“ Hochbegabung aufgewachsen sind und möglicherweise besondere Förderung oder auch Leistungsdruck erfahren haben, oft mit anderen Lernerfahrungen konfrontiert. Unabhängig vom Zeitpunkt der Erkenntnis ist das hochbegabungsspezifische Erleben eng mit der persönlichen Lebensgeschichte verwoben.
Psychotherapie: Eine maßgeschneiderte Unterstützung

Viele Patient:innen suchen psychotherapeutische Hilfe auf, um ihre mögliche Hochbegabung zu ergründen oder Unterstützung im Umgang mit hochbegabungsspezifischen Herausforderungen zu erhalten. Besonders jene, deren Hochbegabung erst im Erwachsenenalter festgestellt wurde, möchten oft rückblickend ihre biografischen Erfahrungen einordnen und zugleich eine neue Ausrichtung für ihr Leben finden. Auch wenn Hochbegabung nicht immer der primäre Anlass für eine Therapie ist, fühlen sich hochbegabte Patient:innen deutlich besser verstanden und sind zufriedener, wenn ihre Hochbegabung angemessen in den Therapieprozess einbezogen wird.
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass eine Therapie das hochbegabungsspezifische Erleben und den Lernkontext nicht außer Acht lässt. Dies beginnt bereits bei der Anamnese, wo eine bewertungsfreie Exploration der genannten Aspekte und Erfahrungen von großer Bedeutung ist. Eine unzureichende Berücksichtigung kann zu Fehlinterpretationen hochbegabungsspezifischer Merkmale als pathologische Symptome führen und somit das Risiko für Fehldiagnosen erhöhen. Ein tiefgreifendes Verständnis der Patient:innen ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Therapie.
Die Bedeutung des Funktionalen Bedingungsmodells
Gerade für das Aufstellen des Funktionalen Bedingungsmodells, welches das Herzstück des Fallverständnisses in der Verhaltenstherapie darstellt, ist es unerlässlich, die biografischen Lernerfahrungen aus einer Hochbegabungsperspektive zu betrachten. Würde dies nicht angemessen eingeordnet, könnten keine passenden Ansatzpunkte für Veränderung, entsprechende Zielklärung und Therapieplanung erfolgen. Die Therapie muss die einzigartigen Denkweisen und Erlebnisse hochbegabter Menschen berücksichtigen, um wirklich wirksam zu sein und nachhaltige Veränderungen zu bewirken.
Gestaltung der therapeutischen Beziehung
Bei der Gestaltung der therapeutischen Beziehung und der Umsetzung der Interventionen empfiehlt es sich, Anpassungen vorzunehmen. Hochbegabte Patient:innen möchten aktiv mitdenken, sich in die Therapie einbringen und die Interventionen verstehen. Sie streben danach, Probleme in ihrer Komplexität zu begreifen und nachhaltig zu verändern. Daher ist es hilfreich, ihnen genügend Freiraum einzuräumen und die Therapie besonders transparent zu gestalten. Ein offener Austausch ermöglicht es, Interventionen flexibel zu modifizieren, insbesondere wenn Patient:innen zwischen den Sitzungen bereits eigenständig viel erarbeitet haben. Eine partnerschaftliche Zusammenarbeit fördert das Vertrauen und die Eigenverantwortung.
Maßgeschneiderte Therapie für individuelle Bedürfnisse
Aus der praktischen Erfahrung zeigt sich, dass hochbegabte Patient:innen eine maßgeschneiderte Therapie wünschen, in der ihr einzigartiges Sein wertgeschätzt und erlebbar gemacht wird. Sie möchten in ihrer Individualität und Kompetenz bei der Lösung ihrer zugrundeliegenden Probleme unterstützt werden. Der psychotherapeutische Rahmen sollte es ermöglichen, sich mit einem von der „Norm“ abweichenden Erleben in den vorhandenen Ressourcen gefördert zu fühlen. Es geht darum, die besonderen Stärken der Hochbegabung zu nutzen und gleichzeitig konstruktiv mit den Herausforderungen umzugehen.
- Wertschätzung des eigenen Seins
- Erlebbar machen der individuellen Hochbegabung
- Unterstützung bei der Problemlösung unter Berücksichtigung der Kompetenzen
- Förderung der vorhandenen Ressourcen
Ein tieferes Verständnis für die eigene Identität finden, auch im Kontext der Hochbegabung, ist ein zentraler Aspekt für viele. Dies ermöglicht es ihnen, sich selbst besser zu verstehen und ihren Platz in der Welt zu finden. Die therapeutische Begleitung kann dabei helfen, die oft komplexen inneren Welten hochbegabter Menschen zu ordnen und ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie ihr volles Potenzial entfalten können.
Den Sinn im Leben finden
Ein oft unterschätzter Aspekt bei Hochbegabten ist die Suche nach dem Sinn im Leben. Aufgrund ihres tiefgründigen Denkens und ihrer intensiven Wahrnehmung stellen sie sich oft existenzielle Fragen. Eine Therapie kann auch hier ansetzen, indem sie diesen Fragen Raum gibt und unterstützend wirkt, um den Sinn des Lebens zu finden. Dies ist besonders relevant, da Unterforderung und das Gefühl, nicht verstanden zu werden, oft zu Sinnkrisen führen können. Die Integration von philosophischen und psychologischen Ansätzen kann hierbei sehr hilfreich sein.
Insgesamt ist eine differenzierte und empathische Herangehensweise in der Psychotherapie von Hochbegabten unerlässlich. Es geht nicht darum, Hochbegabung als Problem zu sehen, sondern als eine besondere Konstitution, die spezielle Bedürfnisse und Stärken mit sich bringt. Durch eine angepasste Therapie können hochbegabte Patient:innen lernen, ihre Begabung als Ressource zu nutzen und ein erfülltes Leben zu führen, in dem sie sich verstanden und wertgeschätzt fühlen.
Lassen Sie eine Antwort