
Der Mythos des Sisyphos: Albert Camus und die Kunst, Sinn im Absurden zu finden
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist wohl eine der ältesten und drängendsten, die die Menschheit beschäftigt. Sie wird besonders schmerzhaft in Momenten, in denen wir uns der Sinnlosigkeit, der Leidenschaftslosigkeit oder der schieren Gleichgültigkeit des Universums gegenübersehen. In solchen Zeiten scheint die Suche nach einem übergeordneten Zweck oder einer vorgegebenen Bedeutung vergeblich.
In seinem einflussreichen Werk „Der Mythos des Sisyphos“ widmet sich der französische Philosoph und Schriftsteller Albert Camus genau dieser existentiellen Problematik. Er stellt die zentrale Frage: Wie kann der Mensch in einer Welt, die jeglichen transzendenten Sinn vermissen lässt, dennoch Bedeutung und Erfüllung finden? Dieser Artikel beleuchtet Camus‘ Konzept des Absurden, seine Verbindung zum Existenzialismus und die tiefgreifende Symbolik des Sisyphos als Held einer sinnentleerten Existenz.
Was ist das Absurde nach Albert Camus?

Für Camus entsteht das Absurde nicht aus der Welt allein oder aus dem Menschen allein, sondern aus der Konfrontation zwischen beiden. Es ist das schmerzhafte Spannungsfeld zwischen der natürlichen menschlichen Sehnsucht nach Klarheit, Sinn und Einheit und dem stummen, rational nicht erfassbaren Schweigen des Universums. Der Mensch sucht nach Erklärungen, nach einem „Warum“, nach einer höheren Ordnung, doch die Welt liefert keine fertigen Antworten. Diese unüberbrückbare Kluft – unser Ruf nach Sinn und die sinnlose Stille der Welt – ist das, was Camus als das Absurde bezeichnet.
Es ist eine grundlegende Erfahrung, die jeden Menschen treffen kann, sobald er sich seiner Sterblichkeit und der letztendlichen Bedeutungslosigkeit gegenüber einer unendlichen und gleichgültigen Kosmos bewusst wird. Dieses Gefühl der Fremdheit, der Erkenntnis, dass die Welt nicht unseren innersten Bedürfnissen nach Sinn und Ordnung entspricht, kann zu einer tiefen existenziellen Krise führen.
Das Absurde und der Existenzialismus
Obwohl Camus oft dem Existenzialismus zugeordnet wird, sah er sich selbst eher als „Absurdist“. Es gibt jedoch Überschneidungen. Der Existenzialismus, insbesondere in der Form, wie er von Jean-Paul Sartre vertreten wurde, geht davon aus, dass „Existenz der Essenz vorausgeht“. Das bedeutet, der Mensch wird ohne einen vorgegebenen Zweck geboren und muss seinen Sinn selbst erschaffen. Auch hier spielt die Abwesenheit eines Gottes oder einer festen metaphysischen Ordnung eine zentrale Rolle.
Camus teilt die existenzialistische Annahme, dass es keinen übergeordneten Sinn oder Zweck gibt, der dem menschlichen Leben von außen gegeben ist. Die Welt ist nicht rational im menschlichen Sinne. Doch während einige Existenzialisten versuchen, durch freie Wahl und Handeln einen subjektiven Sinn zu erschaffen, konzentriert sich Camus auf die Reaktion auf die Erkenntnis des Absurden. Er betrachtet das Absurde als eine grundlegende Bedingung der menschlichen Existenz, die nicht durch die Schaffung eines neuen Sinns überwunden werden kann, sondern nur durch das Leben inmitten dieser Absurdität.
Warum leben, wenn alles sinnlos ist? Camus‘ Replik auf den Suizid
Angesichts der Erkenntnis der Absurdität des Daseins scheint der Suizid auf den ersten Blick eine logische Konsequenz zu sein – die ultimative Befreiung aus der sinnleeren Existenz. Doch Camus lehnt diese Schlussfolgerung entschieden ab. Für ihn ist der Suizid keine Lösung, sondern eine Kapitulation. Er bedeutet, dem Absurden zu erliegen, es zu beenden, anstatt es zu konfrontieren.
Camus‘ Antwort ist die Revolte. Nicht eine politische oder soziale Revolution im ersten Sinne, sondern eine innere, existenzielle Auflehnung gegen die Absurdität. Diese Revolte besteht darin, die Absurdität anzuerkennen, sie bewusst zu leben und sich dennoch nicht von ihr erdrücken zu lassen. Es ist ein ständiger Widerspruch gegen die Sinnlosigkeit, ein Beharren auf der menschlichen Würde und Freiheit inmitten einer unfreien Welt. Die Revolte ist für Camus der Beweis dafür, dass das Leben trotz der Absurdität lebenswert sein kann.
Sisyphos als Symbol des absurden Helden
Um seine Philosophie zu veranschaulichen, wählt Camus die mythologische Figur des Sisyphos. Sisyphos wurde dazu verdammt, auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufzurollen, nur um zu sehen, wie dieser kurz vor dem Gipfel wieder ins Tal stürzt. Eine archetypische Darstellung sinnloser, endloser Plackerei.
Auf den ersten Blick erscheint Sisyphos als das ultimative Opfer des Absurden. Doch Camus sieht in ihm den absurden Helden. Warum? Weil Sisyphos, in dem Moment, in dem er den Felsblock wieder ins Tal rollen sieht und den Berg hinabsteigt, sich seines Schicksals voll bewusst ist. Er kennt die Sinnlosigkeit seiner Aufgabe. Aber gerade in diesem Bewusstsein, in der Annahme seiner Bürde ohne Hoffnung, liegt seine Tragödie und zugleich seine Überlegenheit. Er ist sich seiner Verdammnis bewusst, aber er lässt sich nicht davon brechen. Er lebt seine Strafe in vollem Bewusstsein.
Die verborgene Freude des Sisyphos
Camus stellt sich Sisyphos auf seinem Gang den Berg hinab vor. Dieser Moment des Abstiegs ist entscheidend. Es ist der Moment des Bewusstseins, des Nachdenkens über sein Schicksal. Und in diesem Moment, so Camus, gehört sein Schicksal ihm. Sein Fels ist seine Sache. Die Erkenntnis, dass es kein übergeordnetes Schicksal gibt, dem er sich beugen muss, sondern nur sein eigenes, selbstbestimmtes Schicksal, das er bewusst lebt, macht ihn zum Herrn seiner Tage.
„Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. … Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. Wenn es ein persönliches Geschick gibt, dann gibt es kein übergeordnetes Schicksal… Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage.“ „Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Für Camus ist Sisyphos‘ Glück nicht die Abwesenheit von Leid oder Sinnlosigkeit, sondern die Annahme und bewusste Gestaltung seiner absurden Existenz. Sein Kampf gegen den Gipfel, die ständige Anstrengung, füllt sein Herz. Er revoltiert, indem er seine Strafe lebt, aber sich nicht von ihr erniedrigen lässt. Er ist frei in seinem Bewusstsein und seiner Entscheidung, weiterzumachen.
Leben in der Absurdität: Was sollen wir tun?

Die Lehre aus Camus‘ Philosophie des Absurden ist nicht Verzweiflung, sondern eine Aufforderung zur intensiven und bewussten Lebensführung. Wenn das Leben keinen vorgegebenen Sinn hat, sind wir frei, unseren eigenen zu gestalten – nicht als Illusion, die das Absurde leugnet, sondern als bewusste Schöpfung inmitten der Sinnlosigkeit. Das bedeutet, die Freiheit zu umarmen, die aus der Abwesenheit übergeordneter Zwänge entsteht.
Es geht darum, die Fülle des menschlichen Erlebens auszukosten, Beziehungen zu pflegen, kreativ zu sein, sich für Ideale einzusetzen, auch wenn diese letztlich keinen „ewigen“ Bestand haben. Es ist die Weigerung, sich der Sinnlosigkeit zu beugen, und stattdessen durch Handeln, Schaffen und bewusste Wahl dem Leben einen persönlichen Sinn zu geben. Selbstverwirklichung wird zu einem Akt der Revolte.
Gedanken zum Abschluss
Albert Camus‘ „Der Mythos des Sisyphos“ ist eine kraftvolle Meditation über die menschliche Bedingung. Er lehrt uns, dass die Erkenntnis des Absurden nicht das Ende, sondern der Beginn einer authentischen Existenz ist.
Indem wir die Sinnlosigkeit annehmen und uns dennoch auflehnen, finden wir unsere Freiheit und die Möglichkeit, unser Leben trotz allem mit Bedeutung zu füllen – genau wie Sisyphos, der in seinem endlosen Kampf seinen eigenen Sinn findet.
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