
Buch schreiben: Gegenwart oder Vergangenheit?
Die Entscheidung für die richtige Zeitform ist einer der fundamentalsten Schritte beim Schreiben eines Buches. Sie legt das Fundament für den Rhythmus, die Atmosphäre und die emotionale Verbindung des Lesers zur Geschichte. Viele Autoren fragen sich: Soll ich mein Buch in der Gegenwart oder Vergangenheit schreiben? Diese Wahl ist kein bloßes grammatikalisches Detail, sondern ein mächtiges erzählerisches Werkzeug, das den gesamten Ton Ihres Romans prägt. In diesem Leitfaden analysieren wir beide Optionen, zeigen ihre Stärken und Schwächen auf und geben Ihnen klare Kriterien an die Hand, um die perfekte Zeitform für Ihr Projekt zu finden.
Die Zeitform: Das narrative Fundament Ihrer Geschichte

Bevor wir in die Details von Präsens und Präteritum eintauchen, ist es wichtig zu verstehen, dass es keine universell „richtige“ Antwort gibt. Die gewählte Zeitform beeinflusst maßgeblich, wie unmittelbar die Handlung wirkt, wie viel Distanz der Erzähler zum Geschehen hat und wie der Leser Informationen aufnimmt. Sie ist das unsichtbare Gerüst, das den Erzählstil und das Leseerlebnis von Grund auf formt.
Das Präsens (Gegenwartsform): Unmittelbarkeit und rohe Emotion
In den letzten Jahren hat das Präsens, besonders in Genres wie Young Adult, Thriller und literarischer Fiktion, an Popularität gewonnen. Wenn eine Geschichte in der Gegenwart erzählt wird, erlebt der Leser die Ereignisse zeitgleich mit den Charakteren. Jeder Moment entfaltet sich in Echtzeit, was eine intensive und oft atemlose Atmosphäre schafft.
- Vorteile: Erzeugt hohe Spannung und ein Gefühl der Dringlichkeit. Der Leser ist mittendrin im Geschehen und weiß nicht mehr als die Figur selbst. Dies fördert eine starke emotionale Identifikation.
- Nachteile: Zeitliche Sprünge wie Rückblenden sind schwieriger zu integrieren, ohne den Lesefluss zu stören. Der Stil kann auf Dauer unerbittlich und anstrengend wirken, da es kaum Momente der Reflexion gibt.
Die Gegenwartsform eignet sich hervorragend für Geschichten, die von einer starken, unmittelbaren Figurenperspektive leben und den Leser fesseln sollen.
Das Präteritum (Vergangenheitsform): Der klassische Weg des Erzählers
Das Präteritum ist die traditionelle und am weitesten verbreitete Zeitform in der Romanliteratur. Sie signalisiert dem Leser: „Ich erzähle dir eine Geschichte, die bereits stattgefunden hat.“ Diese erzählerische Distanz schafft Raum für Reflexion, Zusammenfassungen und eine souveränere Kontrolle über die Zeit.
- Vorteile: Ermöglicht eine enorme Flexibilität. Rückblenden, Vorausdeutungen und zeitliche Raffungen lassen sich nahtlos einbauen. Der Erzähler kann Ereignisse kommentieren und einordnen, was für komplexe Handlungen und World-Building ideal ist.
- Nachteile: Kann eine gewisse Distanz zwischen Leser und Charakter schaffen. Die Spannung entsteht weniger durch unmittelbare Gefahr als durch die meisterhafte Komposition der Erzählung.
Die Vergangenheitsform ist ein bewährtes Werkzeug für epische Sagas, historische Romane und Geschichten, in denen der Erzähler eine allwissende oder reflektierende Rolle einnimmt.
Wie Sie die richtige Entscheidung treffen

Die Wahl zwischen Gegenwart und Vergangenheit hängt nicht von starren Regeln ab, sondern von den Zielen, die Sie mit Ihrer Geschichte verfolgen. Berücksichtigen Sie die folgenden Faktoren, um eine fundierte Entscheidung zu treffen, die Ihr Werk stärkt.
Genre und Lesererwartung
Bestimmte Genres haben Konventionen entwickelt, an die Leser gewöhnt sind. Während Thriller oft vom Adrenalin des Präsens leben, erwarten Leser von historischen Romanen oder High-Fantasy-Epen meist die ruhigere, allwissende Perspektive des Präteritums. Analysieren Sie Bücher in Ihrem Genre: Welche Zeitform überwiegt und warum funktioniert sie dort so gut?
Die Erzählperspektive als Kompass
Ihre gewählte Perspektive (Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler etc.) interagiert stark mit der Zeitform. Ein Ich-Erzähler im Präsens zieht den Leser direkt in den Kopf der Figur – jeder Gedanke, jede Furcht wird live miterlebt. Ein allwissender Erzähler im Präteritum hingegen schwebt über dem Geschehen und kann die Gedanken mehrerer Figuren offenlegen und Zusammenhänge erklären, die den Charakteren selbst verborgen sind.
Ihr persönlicher Stil und die gewünschte Atmosphäre
Letztendlich ist es eine Frage des Gefühls. Welcher Stil liegt Ihnen mehr? Schreiben Sie einige Probeseiten in beiden Zeitformen. Welche Version fühlt sich authentischer an? Welche transportiert die gewünschte Stimmung – gehetzt und klaustrophobisch oder episch und reflektiert? Ihr persönlicher Schreibstil ist ein entscheidender Faktor. Manchmal muss man einfach ausprobieren, was sich für die eigene Stimme und die spezifische Geschichte richtig anfühlt. Trauen Sie sich, Ihren Instinkten zu folgen und eine bewusste Wahl zu treffen.
Keine Angst vor Experimenten

Die Entscheidung für eine Zeitform ist nicht in Stein gemeißelt. Es ist völlig normal, während des Schreibprozesses festzustellen, dass die anfängliche Wahl nicht die gewünschte Wirkung erzielt. Scheuen Sie sich nicht davor, ein Kapitel oder sogar das ganze Manuskript umzuschreiben. Der Aufwand lohnt sich, wenn die Geschichte dadurch an Kraft gewinnt. Erfolgreiches Buch schreiben bedeutet, flexibel zu bleiben und stets die beste Form für den Inhalt zu suchen, egal ob Sie sich für die Gegenwart oder Vergangenheit entscheiden.


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