
Bindungsstile & Fremdgehen: Wie Kindheit die Untreue prägt
Unsere Kindheitserlebnisse formen uns auf tiefgreifende Weise. Sie beeinflussen nicht nur unsere Persönlichkeit, sondern auch, wie wir als Erwachsene Beziehungen gestalten und Herausforderungen meistern. Insbesondere in romantischen Partnerschaften zeigen sich oft Muster, die ihren Ursprung weit zurück in unserer Vergangenheit haben. Ein Thema, das dabei immer wieder auftaucht, ist das Fremdgehen – ein schmerzhafter Vertrauensbruch, dessen Ursachen komplex sind und manchmal bis in die Kindheit zurückreichen.
Dieser Artikel beleuchtet den Zusammenhang zwischen unseren frühen Prägungen und dem Verhalten in Erwachsenenbeziehungen. Wir tauchen ein in die Welt der Bindungsstile, erklären, wie diese in der Kindheit entstehen und wie sie das Risiko für Untreue beeinflussen können. Dabei gehen wir auf die Dynamiken von Bindungsangst und Verlustangst ein und zeigen konkrete kindliche Ursachen auf, die sich im Erwachsenenalter in Form von Fremdgehen manifestieren können. Außerdem erörtern wir, ob und wie eine Veränderung dieser tief verwurzelten Muster möglich ist.
Die Welt der Bindungsstile verstehen

Die Bindungstheorie, ursprünglich von John Bowlby entwickelt und später von Mary Ainsworth erweitert, beschreibt, wie die frühe Beziehung zwischen einem Kind und seinen primären Bezugspersonen (meist die Eltern) die Entwicklung sogenannter Bindungsstile beeinflusst. Diese Stile prägen, wie wir Nähe und Distanz in Beziehungen erleben, wie wir mit Trennung umgehen und wie sicher wir uns in der Interaktion mit anderen fühlen. Es gibt im Wesentlichen vier Bindungstypen, wobei einer als sicher gilt.
Der sichere Bindungsstil: Ein stabiles Fundament
Personen mit einem sicheren Bindungsstil konnten in ihrer Kindheit auf verlässliche und feinfühlige Bezugspersonen zählen. Sie fühlen sich in Beziehungen wohl, können Nähe zulassen, aber auch gut alleine sein. Sie vertrauen ihrem Partner und gehen in der Regel davon aus, dass ihre Bedürfnisse erfüllt werden. Konflikte sehen sie als lösbar an und können offen darüber sprechen. Dieser Stil ist das gesündeste Fundament für erfüllende und stabile Partnerschaften.
Unsichere Bindungsstile: Bindungsangst und Verlustangst
Unsichere Bindungsstile entstehen, wenn die Bedürfnisse des Kindes nach Nähe, Sicherheit oder Autonomie nicht konsistent oder angemessen erfüllt wurden. Hierbei werden oft zwei Hauptformen unterschieden, die für das Verständnis von Beziehungsproblemen und auch Untreue relevant sind:
- Bindungsängstlicher Stil (Unsicher-vermeidend): Menschen mit diesem Stil haben oft gelernt, dass sie sich nicht auf die Verfügbarkeit ihrer Bezugspersonen verlassen konnten oder dass zu viel Nähe erdrückend war. Als Erwachsene neigen sie dazu, emotionale Nähe zu meiden. Sie legen großen Wert auf ihre Unabhängigkeit und können sich unwohl fühlen, wenn der Partner zu viel Nähe sucht. Sie haben oft Schwierigkeiten, Gefühle zu zeigen, und ziehen sich bei Konflikten eher zurück.
- Verlustängstlicher Stil (Unsicher-ambivalent oder Desorganisiert): Dieser Stil entwickelt sich oft, wenn Bezugspersonen unberechenbar waren – manchmal liebevoll und verfügbar, manchmal abweisend oder überfordernd. Diese Kinder lernen nicht, ein stabiles Gefühl der Sicherheit zu entwickeln. Als Erwachsene haben sie ein starkes Bedürfnis nach Nähe und Bestätigung, aber auch eine ständige Angst, verlassen zu werden. Sie klammern sich oft an den Partner, sind sehr sensibel für dessen Verhalten und definieren ihren Selbstwert stark über die Beziehung.
Wie Bindungsstile das Risiko für Untreue beeinflussen
Auf den ersten Blick mag es erscheinen, als wären nur bindungsängstliche Menschen anfällig für Untreue, da sie Freiheit suchen und sich weniger stark binden. Doch die Realität ist komplexer. Während sicher gebundene Personen seltener fremdgehen, da sie eher in der Lage sind, Bedürfnisse und Konflikte offen anzusprechen, können sowohl Menschen mit Bindungsangst als auch mit Verlustangst in bestimmten Situationen zu Seitensprüngen neigen – wenn auch aus sehr unterschiedlichen Beweggründen.
Für eine Person mit Bindungsangst kann ein Seitensprung eine Möglichkeit sein, das Gefühl von Autonomie und Unabhängigkeit wiederherzustellen, besonders wenn sie sich in der Beziehung eingeengt fühlt. Sexuelle Kontakte müssen für sie nicht zwingend mit emotionaler Nähe verbunden sein, was die Hemmschwelle senken kann.
Für eine Person mit Verlustangst mag Fremdgehen paradox klingen, da sie sich ja eigentlich nach Nähe sehnt. Doch wenn das starke Bedürfnis nach Bestätigung, Aufmerksamkeit und Nähe vom aktuellen Partner nicht erfüllt wird, kann der Seitensprung eine verzweifelte Suche nach eben jener Erfüllung bei einer anderen Person darstellen. Es ist ein Versuch, das eigene geringe Selbstwertgefühl durch externe Bestätigung aufzubauen.
Fremdgehen als Regulationsmechanismus für unerfüllte Bedürfnisse
In beiden Fällen kann Fremdgehen als eine Art „Regulationsmechanismus“ verstanden werden. Es ist kein gesunder Mechanismus, aber er dient dazu, ein tiefes, oft unbewusstes Bedürfnis zu befriedigen, das in der aktuellen Beziehung unerfüllt bleibt und dessen Wurzeln oft im kindlichen Bindungserleben liegen:
- Für den Bindungsängstler: Wiederherstellung von Autonomie und Freiraum.
- Für den Verlustängstler: Suche nach Nähe, Aufmerksamkeit und Bestätigung.
Konflikte in der Beziehung, die aus nicht zusammenpassenden Bindungsstilen oder unerfüllten Bedürfnissen resultieren, sind oft der Nährboden für Untreue. Ein sicherer Bindungsstil ist daher nicht nur ein Zeichen für eine gesunde Psyche, sondern auch ein Schutzfaktor für die Treue in einer Partnerschaft.
Kindliche Prägungen: Ursachen für unsichere Bindung und potenzielles Fremdgehen

Schauen wir uns spezifische Kindheitserfahrungen an, die die Entwicklung unsicherer Bindungsstile begünstigen und somit potenziell das Risiko für Untreue im Erwachsenenalter erhöhen können. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Ursachen Möglichkeiten aufzeigen, aber nicht bedeuten, dass jeder Mensch mit solchen Erfahrungen fremdgehen wird.
Ursache 1: Inkonsistentes Elternverhalten
Waren Ihre Eltern unberechenbar in ihrer Zuneigung und Verfügbarkeit? Fühlten Sie sich als Kind unsicher, wann Sie Liebe und Aufmerksamkeit bekamen und wann nicht? Vielleicht waren die Eltern stimmungsschwankend, oft gestresst oder durch eigene Probleme (wie psychische Erkrankungen oder ständige Konflikte) absorbiert. Dieses unvorhersehbare Verhalten verhindert, dass das Kind ein stabiles inneres Gefühl der Sicherheit und Verlässlichkeit entwickeln kann.
Möglicher Bindungsstil: Bindungsangst oder Verlustangst.
- Als Erwachsener mit Bindungsangst könnten Sie Schwierigkeiten haben, sich fest zu binden, oder Ihr Partner fühlt sich unsicher, wo er bei Ihnen steht.
- Als Erwachsener mit Verlustangst suchen Sie möglicherweise übermäßige Sicherheit und haben Angst, ohne Ihren Partner nicht zurechtzukommen.
Der Link zum Fremdgehen: Beide Stile können versuchen, ihre Bedürfnisse (Freiheit vs. Nähe) durch externe Kontakte auszugleichen, wenn der Partner die unbewusst geforderten, oft extremen Bedürfnisse nicht erfüllen kann oder will.
Lösung: Offene Kommunikation ist essenziell. Erkennen Sie Ihr Muster und sprechen Sie mit einem Partner, dessen Bindungsstil eher sicher ist, über Ihre Unsicherheiten und Bedürfnisse. Manchmal ist auch die Erkenntnis wichtig, dass nicht jeder Partner zu Ihrem Bindungsstil passt.
Ursache 2: Zu frühe Verantwortungsübernahme
Mussten Sie als Kind oft eine „erwachsene“ Rolle einnehmen? Vielleicht mussten Sie sich um jüngere Geschwister kümmern, waren Vertrauensperson für einen Elternteil oder mussten früh selbstständige Entscheidungen treffen, die nicht altersgerecht waren. Wenn Kinder zu früh zu viel Verantwortung tragen oder in die Rolle eines Mini-Erwachsenen gedrängt werden, kann dies die Entwicklung eines Bedürfnisses nach starker Autonomie im Erwachsenenalter fördern.
Möglicher Bindungsstil: Bindungsangst.
- Sie legen als Erwachsener großen Wert auf Ihre Unabhängigkeit und Freiheit.
- Sie haben Schwierigkeiten, emotionale Lasten anderer zu teilen und ziehen sich eher auf sich selbst zurück.
Der Link zum Fremdgehen: Fremdgehen kann ein unbewusster Weg sein, Ihre hart erkämpften Grenzen und Ihre Autonomie zu verteidigen oder wiederherzustellen, besonders wenn Sie sich in der Partnerschaft eingeengt oder überfordert fühlen, ähnlich wie als Kind.
Lösung: Erklären Sie Ihrem Partner ruhig und deutlich, welche Bedürfnisse Sie nach Freiraum und Eigenständigkeit haben. Kommunizieren Sie Ihre Grenzen offen. Ein verständnisvoller Partner kann Ihnen helfen, diese Bedürfnisse innerhalb der Beziehung zu erfüllen, wodurch der Drang, auszubrechen, verringert wird.
Ursache 3: Übertragung elterlicher Wünsche
Wurden Ihnen als Kind bewusst oder unbewusst die Wünsche und Träume Ihrer Eltern auferlegt? Mussten Sie ein bestimmtes Hobby ausüben, einen Berufszweig einschlagen oder familiäre Werte übernehmen, die nicht Ihre eigenen waren? Wenn Kinder nicht ermutigt werden, ihre eigene Individualität und ihre eigenen Wünsche zu entwickeln, sondern die Erwartungen der Eltern erfüllen müssen, kann dies zu einem tiefen Bedürfnis nach Selbstbestimmung im Erwachsenenalter führen.
Möglicher Bindungsstil: Bindungsangst.
- Sie sehnen sich nach Freiheit und der Möglichkeit, eigene Entscheidungen zu treffen.
- Sie fühlen sich unwohl, wenn Sie das Gefühl haben, von anderen kontrolliert oder fremdbestimmt zu werden.
Der Link zum Fremdgehen: Wenn Sie in Ihrer Beziehung das Gefühl haben, eingeengt zu werden oder dass Ihnen Wünsche aufgezwungen werden, die nicht Ihre eigenen sind, kann dies die alte Dynamik aus der Kindheit reaktivieren. Der starke Wunsch nach Ausbruch und Freiheit kann dann in Form von Fremdgehen zum Ausdruck kommen.
Lösung: Teilen Sie Ihre Kindheitserfahrungen und Ihr Bedürfnis nach Selbstbestimmung mit Ihrem Partner. Klären Sie, dass Sie Ihre eigenen Ziele und Wünsche verfolgen möchten. Ein offenes Gespräch über Ihre Bedürfnisse nach Freiraum kann verhindern, dass Sie sich eingeengt fühlen und nach Wegen suchen, auszubrechen.
Ursache 4: Überbehütung in der Kindheit
Wurden Sie als Kind extrem behütet, vielleicht so sehr, dass Ihnen kaum Raum für eigene Erfahrungen und Selbstständigkeit gelassen wurde? Während Schutz wichtig ist, kann übermäßige Behütung die Entwicklung einer gesunden Ablösung erschweren. Wenn der natürliche Drang nach Unabhängigkeit unterdrückt wird und das Kind sehr eng an die Eltern gebunden bleibt, ohne die Möglichkeit, eigene Schritte zu wagen und sich als eigenständige Person zu erleben, kann dies zu Unsicherheit in zukünftigen Beziehungen führen.
Möglicher Bindungsstil: Verlustangst.
- Sie haben ein sehr starkes Bedürfnis nach Nähe und fühlen sich unsicher, wenn Ihr Partner nicht präsent oder erreichbar ist.
- Sie definieren sich stark über die Beziehung und haben Angst, verlassen zu werden. Grenzen des Partners können als Ablehnung empfunden werden.
Der Link zum Fremdgehen: Paradoxerweise kann auch die überbehütete Person fremdgehen. Wenn das extreme Bedürfnis nach Nähe und Bestätigung vom Partner nicht (im gewünschten Ausmaß) erfüllt wird, kann die Person mit Verlustangst bei jemand anderem danach suchen. Fremdgehen wird dann zu einem Kompensationsversuch für die empfundene emotionale Leere oder mangelnde Bestätigung in der Hauptbeziehung.
Lösung: Arbeiten Sie an Ihrem Selbstwertgefühl, unabhängig von Ihrem Partner. Üben Sie, alleine zurechtzukommen und sich selbst zu validieren. Sprechen Sie offen über Ihr Bedürfnis nach Nähe, aber seien Sie sich bewusst, dass Ihr Partner möglicherweise nicht jedes Bedürfnis in dem von Ihnen gewünschten Maß erfüllen kann. Professionelle Hilfe kann sehr unterstützend sein, um gesündere Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
Die Möglichkeit der Veränderung: Können Bindungsstile reifen?
Die gute Nachricht ist, dass Bindungsstile nicht in Stein gemeißelt sind. Auch wenn sie tief in der Kindheit geprägt wurden, ist eine Veränderung hin zu einem sichereren Bindungsstil im Erwachsenenalter möglich. Dieser Prozess erfordert Selbstreflexion, Mut und oft auch Unterstützung.
Erkennen Sie Ihre Muster: Der erste Schritt ist immer die Bewusstwerung. Verstehen Sie, welcher Bindungsstil Sie prägt und wie sich dies in Ihren Beziehungen äußert. Beobachten Sie Ihre Reaktionen auf Nähe, Distanz, Konflikte und Trennungen.
Arbeiten Sie an Ihrem Selbstwertgefühl: Unsichere Bindungsstile gehen oft mit einem geringen Selbstwertgefühl einher. Lernen Sie, sich selbst anzunehmen, Ihre Stärken zu erkennen und Ihren Wert nicht allein über die Bestätigung durch andere zu definieren. Dies ist ein entscheidender Schritt, um weniger abhängig von der Reaktion des Partners zu sein.
Kommunizieren Sie Ihre Bedürfnisse: Wenn Sie Ihre Bedürfnisse nach Nähe oder Autonomie kennen, lernen Sie, diese offen und klar zu formulieren, anstatt sie durch indirektes Verhalten oder Manipulation (wie Fremdgehen) zu äußern. Eine offene und ehrliche Kommunikation ist der Schlüssel zu gesunden Beziehungen.
Suchen Sie professionelle Hilfe: Ein Therapeut oder Beziehungscoach kann Ihnen helfen, die Ursprünge Ihrer Muster zu verstehen, neue Bewältigungsstrategien zu entwickeln und gesunde Beziehungsgrenzen zu setzen. Dies kann besonders hilfreich sein, wenn die kindlichen Erfahrungen sehr belastend waren oder die Muster stark ausgeprägt sind.
Ein Wegweiser zu erfüllteren Beziehungen
Unsere Kindheit legt zweifellos wichtige Grundsteine für unser Beziehungsverhalten im Erwachsenenalter. Unsichere Bindungsstile, geprägt durch frühe Erfahrungen, können uns anfälliger für Konflikte und potenziell auch für Untreue machen, da sie oft mit unerfüllten Bedürfnissen nach Nähe oder Autonomie verbunden sind.
Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist der erste Schritt zur Heilung. Indem wir unsere Muster verstehen, an unserem Selbstwertgefühl arbeiten und lernen, offen und authentisch zu kommunizieren, können wir uns von alten Prägungen lösen und den Weg zu sichereren, erfüllteren und treuen Beziehungen ebnen.
Lassen Sie eine Antwort